Die Jacke

Es ist ein leicht nebliger Herbsttag, der Tag der umherziehenden Rübengeister, sie wandern von Tür zu Tür und bitten um Süßigkeiten. Seit Tagen überlegen sich meine zwei Kinder, wie sie sich verkleiden können, was wir für unsere kleine Kinderparty an Essen vorbereiten wollen und wie wir die Wohnung lustig dekorieren können.

Und dann ist der grosse Rübengeistertag da und die Aufregung ist riesig. Kleine, mit Kuchenteig gefüllte Wäffelchen werden liebevoll von den Kindern verziert, Luftballons werden aufgepumpt (und welch ein Frust, als das Zuknoten nicht klappen will und welch eine Freude, als es dann beim vierten Ballon doch klappt), geschäftig werden Tücher und Lichterketten aufgehängt und dennoch ziehen sich die Stunden wie Kaugummi, bis es endlich losgeht. Genauso, wie bereits die zwei Tage vor der Party sich wie eine gefühlte Kinderewigkeit gezogen haben.

Am Nachmittag geht es endlich los und die Kinder stehen mit zwei ihrer Freunde schon an der Haustür bereit. Ihre Herzen pulsieren, besonders bei meinem Sohn, der die Welt sehr intensiv in sich wahrnimmt.
An welchen Anzeichen erkenne ich bereits den ganzen Tag über die wachsende Aufregung und innere Anspannung? Zum Beispiel
*an den auffallend vielen kleinen Geschwisterstreitigkeiten an diesem Tag
*an der großen Ungeduld, weil die Schminke im Gesicht auch nach dem vierten Versuch nicht genau so ist, wie es sich mein Sohn vorgestellt hat
*am grossen Wutanfall meines Sohnes, weil ich auf eine Jacke bestehe, bevor wir nach draußen gehen und diese einfach das Kostüm zu stark verdecken würde.

Als wir alle an der Tür stehen, weiß ich: eigentlich ist das System meines Sohnes gerade komplett überlastet von so viel Aufregung und er bräuchte eine Pause. An einen kleinen Rückzug ist allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken. Ruhiges, verständnisvolles, mitfühlendes Sprechen erreichen meinen Sohn nicht mehr. Die empfohlene Jacke wird durch einen Poncho ersetzt und dieser befindet sich nun unter meinem Arm und ich möchte ihn zu einem späteren Zeitpunkt meinem Sohn geben. Es wird kälter und ich versuche noch einmal ruhig mit meinem Sohn zu sprechen, dass die Jacke notwendig ist. Er ist auf seinem Höhepunkt des  Rübengeisterfiebers angelangt, aufgeregt, fast hektisch und durch meine Frage bricht plötzlich alles aus ihm heraus, er schreit: manchmal hasse ich Dich wirklich! Du mit Deiner Jacke!

In diesem Moment braucht er das, es ist ein Ventil, um seiner Anspannung Luft zu machen. Alles fühlt sich so viel für ihn an und nun komme ich mit einer Jacke! Dabei ist ihm ja schon so heiß durch das innere Feuer. Mein Verstand sagt: alles ist in Ordnung. Das meint er nicht so. Er sagt dies, weil seine Anspannung so gross ist. Ich prüfe innerlich, ob ich ihn ohne Poncho gehen lassen will und entscheide, dass ich später nach der Rückkehr für Wärme sorgen werde. Ich lasse ihn also ohne Poncho weiterziehen. Mein Gefühle hat er dennoch getroffen. Der Satz trifft mich wie ein Messerstich mitten ins Herz.

Ich schaffe es, den Satz so stehen zu lassen. Ich verdrehe nicht die Augen, ich kommentiere ihn nicht. Ich schimpfe nicht. Ich sage nicht: also, wenn Du so kommst, dann drehen wir gleich wieder um! Entweder du ziehst jetzt die Jacke an oder wir gehen nach Hause. Ich hab doch gleich gesagt, dass das viel zu viel ist. Ich widerstehe auch der Versuchung, einen Tag später den Satz wieder ins Spiel zu bringen. Vielleicht beleidigt zu sagen, dass ich ihn heute nicht beim Haare waschen unterstütze, weil er mich ja sowieso hasst (da spräche dann mein verletztes inneres Kind). Und ich versuche auch nicht, ein Zurechtrücken seiner Aussage von ihm einzufordern, jetzt, wo sich alles wieder beruhigt hat, das würde ihn beschämen. Ich kann seine Liebe immer spüren.

Und dennoch: der Satz tut weh! Trotz all meiner Möglichkeiten, diesen mit dem Verstand einzuordnen. Wohin mit meiner Verletzung? Und an dieser Stelle bin ich so unendlich froh über die einmal wöchentlichen Zuhör-Treffen mit meiner Nachbarin. Jede von uns hat eine festgelegte Redezeit. Und wir stellen einen Timer, meist 15 Minuten für jede von uns (wir sind geübt in diesen Treffen :-)). Eine beginnt und darf unstrukturiert und ganz frei ihre innere Welt beschreiben. Unsere Treffen erfordern keinerlei Vorbereitung. Wir sprechen, was in diesem Moment in uns präsent ist. Wir unterbrechen die andere nicht in ihrer Redezeit (höchstens um Verständnisfragen zu stellen). Ich darf weinen, darf mich beklagen, darf den Schmerz da sein lassen und sie hört zu. Mitfühlend und mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit, ohne Wertung und ohne Lösungsvorschläge, Ratschläge oder Impulse zu geben. Es ist die Zeit, in der ich gesehen werde mit meiner inneren Welt. Wo teile, dass ich gerade so wenig schlafe und mich sehr erschöpft fühle, dass der Wechsel von Sommer zu Herbst mir zu schaffen macht und dass ich mir Sorgen um das undichte Hausdach mache. Es ist eine Zeit, in der ich nicht empathisch beim anderen bin, es ist die Zeit, in der ich in Verbindung mit meinem Fühlen gehe.  

Wenn der Timer klingelt, dann tauschen wir die Rollen. Dann darf meine Nachbarin sich Raum nehmen. Frei erzählen, was sie bewegt und welche Emotionen da sind, was in ihrem Inneren brennt. Wir können unsere Kinder so viel besser sehen, wenn wir uns auch selbst liebevoll gesehen fühlen. Ich bin meiner Nachbarin sehr dankbar, dass wir uns diesen Raum wöchentlich schenken.

P.S. mein Sohn hatte den ganzen Abend warme Hände und ist auch nicht krank geworden. Es war ein milderer Herbstabend und ein Wolle-Seide-Unterteil unter dem Kostüm hat für ihn genügend Wärme gehalten. Ein warmes Fußbad war ein guter Abschluss für den Tag.

Nadine

Akademie für Kinderliebe

Eine Tochterakademie der

Akademie für Potentialentfaltung
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